Am Samstag, den 9. September 2017, wurden an der Turmstraße 9, drei Stolpersteine verlegt. Aus dem sogenannten Judenhaus* sind während des Holocausts insgesamt 16 Menschen deportiert und ermordet worden.
Margarete Regine Mann, geb. Becker, Max Mann und Anna Blankenstein wurden 1942 nach Auschwitz bzw. Riga deportiert und ermordet. Für sie wurden die ersten Stolpersteine gelegt. Etwa 30 bis 35 Personen verfolgten die Zeremonie.
Initiatoren der Stolpersteinverlegung sind Fridburg Thiele und Horst Selbinger.
Frau Thiele sprach einige einführende Worte.
Horst Selbiger, heute 89 Jahre alt, Journalist, der die Deportationen überlebte, schilderte danach mit bewegende Worten seine Erlebnisse (siehe Rede unten). Er ist heute Ehrenvorsitzender des Vereins „Child Survivors Deutschland“.
Im Verlauf der Verlegung hatte Herr Selbiger die Gelegenheit mit zwei jungen Leuten zu sprechen, die heute in der Wohnung wohnen, in der die Familie Selbiger damals zwangsweise 1 1/2 Zimmer zur Untermiete bei den Schwestern Fraustädter bewohnt hatten.
*Judenhäuser waren Wohnhäuser aus ehemals jüdischen Eigentum, in die ausschließlich jüdische Mieter und Untermieter zwangsweise eingewiesen wurden.
Dokumentation: Rede von Horst Selbiger
Sehr geehrte Gäste, sehr geehrte ehemalige Nachbarn, liebe Freunde.
Heute ist der 9. September, und bundesweit denken und ehren wir heute den Opfern des Faschismus. Es ist ein Glücksfall, dass wir gerade an diesem Tage hier die Stolpersteine legen können.
Ein wenig möchte ich heute vom Schicksal der Einwohner dieses Hauses erzählen und ein wenig auch von meiner Familie.
Nach der Reichspogromnacht im November 1938 bekam mein Vater endgültiges Berufsverbot. Die Zahnarztpraxis meines Vaters und sein zahnärztliches Laboratorium und große Teile unseres Hausrats wurden für lächerliche Pfennigbeträge öffentlich versteigert. Von unserer großen und geliebten 5-Zimmer-Wohnung, in der wir einst sogar Roller fahren konnten, mussten wir Ende des Jahres 1938 in dieses Judenhaus ziehen. Wir waren jetzt Untermieter in eineinhalb Zimmern, mit gemeinsamer Küchen- und Toilettenbenutzung: es war ein totaler sozialer, gesellschaftlicher und grauenvoller Abstieg.
Nach den Novemberpogromen 1938 war das Leben der Deutschen Juden zur Hölle geworden. Der Raubstaat organisierte den Staatsraub an den Juden.
Viele der Deutschen Juden glaubten, Schlimmer könne es nicht kommen, die Brutalität wäre nicht mehr zu steigern. Doch sie wurden eines noch Schlimmeren belehrt.
Von 1933 bis 1939 hat der faschistische Staat 1.400 Gesetze gegen die Juden erlassen. 1.400 in sieben Jahren.
Doch die Pogrome markierten den Übergang von der täglichen Diskriminierung und Drangsalierung der deutschen Juden seit 1933 – hin zur systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden in ganz Europa mit sechs Millionen Opfern.
Hier in unserem Judenhaus in der Turmstraße 9 hatten wir zwei Luftschutzkeller, einen für die Arier und einen für die Juden. Der „arische“ Luftschutzkeller wurde von Bentsch, Heinze und Brockmann benutzt, alle waren SA-Leute mit höheren Funktionen und deren Familien, während der „jüdische“ Schutzraum am Anfang von 23 Personen genutzt wurde.
Die erste, die aus unserem Hause am 27.11.1941 nach Riga deportiert wurde, war Dorothea Blass im Alter von 44 Jahren. Wir hatten dann noch zwei natürliche Todesfälle in unserem Haus zu beklagen. Es starben Elise Fraustädter und Olga Blankenstein. Da waren wir nur noch 20.
Nach einem Jahr ging das dann alles sehr schnell, die Endlösung der Judenfrage war ja angesagt: Die Familie Strom wurde am 29.11.1942 nach Auschwitz deportiert; das waren Hans Strom im Alter von 37 Jahren, seine Frau Malka mit 36 Jahren und ihre Söhne Karl-Heinz, 11 Jahre alt und Norbert mit 9 Jahren.
Die Personenanzahl in unserem Keller war jetzt zusammengeschrumpft auf 16 Personen. Zehn Tage später, am 9.12.1942, wurde die Familie Max Mann, 48, und Margarete Regina Mann, 50 Jahre, ebenfalls nach Auschwitz deportiert.
Wiederum fünf Tage später, am 14.12.1942, verließen uns die Schwestern Betty Fraustädter, 61, und Martha, 59, sowie Anna Blankenstein mit 62 Jahren, alle drei wurden ebenfalls nach Auschwitz deportiert. Jetzt waren wir nur noch elf Personen im jüdischen Luftschutzkeller.
Und am 3. Februar 1943 wurden dann die restlichen Juden aus unserem Haus in den Tod geschickt: Golda Stern, 50 Jahre, die Familien Carl Samenfeld, 58, und seine Frau Martha 51 Jahre alt, mussten ihre Fahrt in den Tod antreten. Ebenfalls am 3. Februar 1943 wurde auch die Familie Leopold Jalowitz, 42, seine Frau Minna, 33 Jahre alt und ihre drei Jahre alten Zwillinge Bela und Chana nach Auschwitz in den Tod geschickt. Innerhalb von zwei Monaten und vier Tagen war der Judenkeller fast leer, es war wie die Geschichte von den „Zehn kleinen Negerlein“. Zurück blieb nur noch die Familie Selbiger, die zwar verfolgt wurde und um ihr Leben zitterte, die aber letztendlich überlebt hat.
Gestatten Sie mir, dass ich heute, am Gedenktag für die Opfer des Faschismus, noch einmal an den Schwur von Buchenwald erinnere, den die befreiten Häftlinge damals schworen:
„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!“. – Leider blieb dieser Schwur bisher noch immer unerfüllt und so bitte ich Sie, lassen Sie uns weiter daran arbeiten. Denn Faschismus ist keine Meinung – Faschismus ist ein Verbrechen
Fotos: Ralf Landmesser